Noch einmal lachte eine helle Oktobersonne von einem azurblauen Tessiner Himmel. Erst relativ spät entschlossen sich Maria, Felice und ich zum Aufbruch, nachdem Silvano zu Einkäufen für seine Corgello-Dusche nach Locarno gefahren war. Maria schlug eine Tour auf der Ostseite der Verzasca oberhalb von Gerra und Frasco vor. Es sei eine schöne Runde über romantische Alpen und goldgelbe Lärchenhaine. Ich begutachtete das auf der Karte und sah, dass es auch einen halbwegs durchgehenden Wanderweg Richtung Poncione della Marcia gab. Von Gerra aus war das aber eine beträchtliche Menge an Höhenmetern. Zu unserer etwas späten Aufbruchstunde nicht ideal. Aber ich hatte ja auch mein Bike hier in Brione und es gab eine Fahrstrasse nach Vald auf 1275 Metern. Somit war der Plan: Mit dem Bike nach Vald hoch und dann per pedes über Cazzai und den Corte di Sopra auf die Marcia. 

Felice und Maria lud ich in Gerra aus, sie starteten hier zu ihrer Wanderung und wollten nicht bis auf den Gipfel der Marcia. Ich parkierte bei Valdasc und pedalte dann die Bergstrasse bis Vald hoch. Das war nach Dreiviertelstunden erledigt und es konnte zu Fuss weiter gehen. Mit Schrecken stellte ich fest, dass ich mein Smartphone im Auto liegen gelassen hatte. Das war vor allem deswegen blöd, weil mir ein Kommunikations- und Rettungsmittel fehlte. Irgendwann würde Felice es komisch finden, dass ich nicht antwortete. Drohnenfliegen war ohne Handy auch nicht möglich: also liess ich das Fluggerät beim Bike zurück. Ich rechnete damit, irgendwann auf andere Leute zu treffen um von ihnen kurz ein Telefon leihen zu können. Das sollte sich als Irrtum erweisen - ich war für den Rest des Tages alleine. Im Solo-Tempo stieg ich bergan und genoss trotz hoher Pace die schönen Alpen und die goldigen Lärchen. Nur der Zwischenabstieg vor Corte di Sopra nervte ein bisschen: Höhenmeter waren es ja auch ohne diese Delle genug. 

Ab Velo bzw. Vald brauchte ich 2.5 Stunden bis auf den Gipfel. Fotostopps brauchte es keine - ohne Smartphone oder Kamera gibt es halt keine Bilder. Die prächtige Aussicht vom höchsten Punkt musste ich also im Hirn speichern (bzw. hier im Blog): Die Rundsicht vom Gipfel bei klarem Herbsthimmel wie heute war spektakulär: Monte Rosa, Piz Bernina und Finsteraarhorn waren ebenso im Blickfeld wie die ganzen umliegenden Tessiner Alpen und Täler in ihren verschiedenen braun und dunkelblau Schattierungen, abgestuft nach Distanz und Dunstsituation. Ich genoss trotz  fehlender Sharing-Möglichkeit diese Momente auf dem Gipfel und speicherte sie tief im Herzen. 

Absteigen musste ich sehr vorsichtig: ohne Telefon und Tourenpartnerin wäre aus einer Verletzung schnell eine unangenehme Erfahrung geworden. Die rasche Auskühlung in der frischen Herbstluft wäre nur ein Problem gewesen. Also ging ich bewusst langsam und benötigte für den Weg ins Tal fast gleich lange wie für den Aufstieg. Und dies auch ohne den Zwischenanstieg beim Corte di Sopra. Bei der Alp Conscina gab es zwar eine Menge Ziegen und Herdenschutzhunde, aber keine Menschen, die gewusst hätten, wo der Weg nach Vald abging. Also suchte ich herum, fand aber schliesslich den Wegweiser mit der richtigen Abzweigung. Bei der Ankunft beim Velo sassen dann tatsächlich Maria und Felicitas auf dem Bänkchen neben meinem Göppel. Die Erleichterung ihrerseits, einen gesunden Chregu vorzufinden, war gross. Wie vermutet hatten sie mich mehrfach zu kontaktieren versucht. Mein Handy im Auto nahm aber nicht ab. Ich konnte das Ganze jetzt klären und ihre Sorgen schnell vertreiben. 

Den Abend beschlossen wir mit einer fantastischen Castagnata. Die beim Abstieg vom Corgello gesammelten Marroni wurden kunstvoll von Silvano über dem offenen Feuer zubereitet und schmeckten hervorragend. I Ticinesi verspeisen die Marroni zusammen mit Bresaola, Alpkäse und Rotwein. Eine vorzügliche Kombination. Wir hatten einmal mehr einen wunderbaren Abend im Kreise der Freunde.